Der folgende Artikel wurde auf Perspektive Online veröffentlicht:
Der deutsche Staat droht einem palästinensischen Aktivisten mit der Abschiebung. Dahinter steht der Versuch, die revolutionäre Organisierung von Palästinenser:innen und Anti-Imperialist:innen in Deutschland zu schwächen. – Ein Interview mit Zaid Abdulnasser von “Samidoun”.
Der deutsche Staat droht, dir deine Aufenthaltserlaubnis zu entziehen. Was wird dir konkret vorgeworfen?
Ich bekam einen Brief vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. In dem Brief wird gesagt, dass es eine Mitteilung des Landes Berlin gab, wonach ich ein Aktivist der palästinensischen Gefangenen-Solidaritätsorganisation Samidoun und einer weiteren Organisation, nämlich Masar al-Badil, bin. Deswegen wurde, so steht es wortwörtlich an mich adressiert dort, „bezüglich Ihres vom Bundesamt gewährten Schutzes ein Rücknahmeverfahren eingeleitet“. Es wird gesagt, dass das öffentliche Interesse an der Rücknahme meinem privaten Interesse gegenüber abgewogen werden soll.
Anders ausgedrückt, der Staat hat vor, mir meine Aufenthaltserlaubnis zu entziehen und stellt meinen Flüchtlingsstatus in Frage wegen meines politischen Engagements.
Dazu muss man wissen: Ich bin in Syrien als Flüchtling geboren. Ich bin Sohn, Enkel und Urenkel von palästinensischen Flüchtlingen, denen das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat Palästina verweigert wird. Das gilt für die Hälfte des palästinensischen Volkes, das im Exil lebt. Mein Flüchtlingsstatus in Deutschland wurde jedoch allein auf der Grundlage anerkannt, dass ich Palästinenser aus Syrien bin.
Welche Systematik steckt hinter diesen Vorwürfen?
Es gibt zwei Hauptinstrumente, die die imperialistischen Akteure gegen pro-palästinensische Organisierung nutzen.
Einmal ist das die Umdeutung, dass Antizionismus eine Form des Antisemitismus sei. Der Staat hat sogar ein neues Konzept entworfen: “israelbezogener Antisemitismus”. Mit dieser neuen Definition ist der palästinensische Kampf per Definition antisemitisch. Und es wird vorgegeben, dass die Unterdrückung der Palästinenser der Bekämpfung vom Antisemitismus in Deutschland dient.
Was uns aber klar sein muss: Antisemitismus ist ein historisches Produkt des europäischen Kapitalismus. Die Schuldzuweisung auf unsere palästinensische Bewegung heutzutage reiht sich ein in die koloniale Sichtweise, dass Europa die Probleme vielmehr importiert, als dass es selbst die Ursache der Probleme weltweit ist. Der deutsche Staat wahrt seine imperialistischen Interessen, indem er die westliche Militärbasis im Nahen Osten namens “Israel” politisch, militärisch und wirtschaftlich unterstützt. Deutschland tut das, während es gleichzeitig propagiert, dass es damit für seine Sünden im Zweiten Weltkrieg büßt. Wenn Deutschland seine Gräueltaten tatsächlich verarbeiten würde, stünde es nicht hinter einem weiteren Ethnostaatsprojekt.
Und noch etwas ist wichtig: Wer Antisemitismus bekämpfen will, muss den Zionismus und den zionistischen Staat bekämpfen, der versucht, seine täglichen Verbrechen und die Vernichtung der Palästinenser so darzustellen, als ob er ‚die Juden‘ und ‚das Judentum‘ repräsentiert. Es ist jedoch gerade die palästinensische Befreiungsbewegung als eine antirassistische, antikoloniale Bewegung, die die Gleichsetzung von Zionismus und Jüdischsein ablehnt. Es ist die palästinensische Befreiungsbewegung, die gegen Antisemitismus, Faschismus und alle Formen von Rassismus kämpft, nicht der deutsche Staat.
Der deutsche Staat versucht natürlich, diese Sichtweise zu untergraben und zu bestrafen. Wer sich für die palästinensische Sache stark macht, wird schnell kriminalisiert …
Und genau das ist das zweite Hauptinstrument! Es wird behauptet, dass die palästinensische Befreiungsbewegung “terroristisch” und auf “Terrorlisten” zu finden sei. Das heißt, dass unsere offene und klare politische Unterstützung für die palästinensische Befreiungsbewegung und den palästinensischen Widerstand eine Form der Unterstützung des Terrorismus sei.
Auch das ist nicht wahr. Der palästinensische Widerstand führt einen Befreiungskampf gegen eine westliche Kolonie, die den Interessen des Imperialismus und Kapitalismus im Nahen Osten dient. Die tatsächlichen terroristische Organisationen in Palästina sind die zionistische Armee und ihre Milizen. Diese Verdrehung der Tatsachen und das Abstempeln als „Terroristen“ wurde gegen jede revolutionäre Kraft in den letzten 20 Jahren benutzt, ob arabische, türkische, kurdische, philippinische oder andere Kräfte.
Wie ordnest du den Angriff des Staats auf dich ein in die Entwicklung der letzten Jahre bezogen auf den Umgang mit palästinensischen revolutionären und anderen revolutionären Organisationen?
Dreißig Jahre nach dem Oslo-Abkommen 1993 können wir heute die Wiedergeburt des organisierten palästinensischen Widerstands in Palästina in Jenin, Nablus und in Gaza und die positiven Auswirkungen dieser Wiedergeburt auf die palästinensische Bewegung im Exil beobachten. Die imperialistischen Staaten beantworten diese neue Entwicklung wieder mit der Kriminalisierung unserer Bewegung.
In den 70er-Jahren, als die palästinensische revolutionäre Bewegung ihren Höhepunkt erreichte und mit einer Repressions- und Verfolgungswelle konfrontiert wurde, war diese Kriminalisierung sogar noch heftiger. Damals wurden Tausende von Palästinensern in Deutschland abgeschoben und palästinensische Arbeiter- und Studentenunionen verboten. Heute erleben wir erneute Verbotsversuche gegen unsere Bewegung: beispielsweise den Verbotsversuch von der Ortsgruppe von Samidoun in Toulouse, Frankreich, letztes Jahr durch den französischen Präsident Macron und die Forderung von zionistischen Organisationen an den deutschen Staat, dass Samidoun in Deutschland mit Hilfe des §129b verboten werden soll.
Außerdem ist die palästinensische Frage die zentrale politische und historische Frage für Araber, Muslime und viele antiimperialistische Kräfte. Samidoun als politischer Schnittpunkt dieser Kräfte in Deutschland stellt gerade für den Staat eine große Gefahr dar. Dieser Angriff auf unsere gesamte Bewegung zeigt die Sorge des deutschen Staats über die Politisierung der migrantischen Massen im antiimperialistischen Kampf, was Samidoun in Deutschland teilweise geschafft hat. Es ist als klare Gegenmaßnahme zur Schwächung der antiimperialistischen Kräfte und zur Aufrechterhaltung und Stärkung der imperialistischen Ordnung zu sehen.
Wie werdet ihr auf den Angriff reagieren?
Unsere Antwort ist die Standhaftigkeit und die Weiterführung der Gründung einer revolutionären Massenbewegung in Deutschland, die gegen die zionistischen und imperialistischen Interessen hier in Europa und in Deutschland kämpft. Wir haben schon zu einer internationalen Kampagne aufgerufen und richten uns damit gegen die Repression, die die palästinensischen Flüchtlinge, die sich für ihre Sache engagieren, trifft. Diese Kampagne bringt viele Kräfte zusammen, da wir nicht die einzigen und nicht die letzten sind, die mit solchen Repressionsmaßnahmen betroffen sind und sein werden.
Wir haben dieses Jahr – ganz genau am Nakba-Tag mit den Demo-Verboten – aber auch an den verschiedenen §129-Verfahren gegen antifaschistische Aktivisten in Deutschland, wie bei den Genossen Dev-Genc und Lina, erlebt, wie ein Angriff nicht lediglich einen Teil unserer Bewegung zum Ziel hat. Der Angriff des Staats gilt stets der gesamten Bewegung. Daher ist es für alle revolutionären Kräften erforderlich, auf diesen Fall genauso zu reagieren, wie sie dies tun würden, wenn auch sie unmittelbar betroffen wären. Der Brand wird alle erreichen.
Welche Unterstützung hast du bis jetzt schon erhalten?
Unsere Kampagne ist bis jetzt von mehr als 150 Parteien, Gewerkschaften, und Organisationen weltweit unterstützt worden. Sie hat uns ermöglicht, uns mit vielen Kräften in Deutschland und weltweit zu verbinden und Veranstaltungen in mehreren deutschen Städten zu organisieren. Diese Kampagne ist bereits ein enormes Werkzeug in unseren Händen, mit der wir mobilisieren und organisieren können. Und wir laden weiterhin alle ein, die Stellungnahme zu unterschreiben und eine klare Ablehnung der repressiven Maßnahmen gegen palästinensische Flüchtlinge zu erklären.
Danke für deine Antworten und weiterhin viel Erfolg bei der Kampagne!
Die Stellungnahme von Samidoun kann hier gelesen und unterschrieben werden.
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